Kohlmeisen lieben es warm – und aufregend: Noch vor Sonnenaufgang stiehlt sich das Weibchen heimlich zum Männchen im anderen Revier. Nach dem Seitensprung geht’s schnell zurück ins heimische Nest.
Ein Engländer nutzt die Sonnenstrahlen seiner Mittagspause und sitzt entspannt auf einer Parkbank. Nach einem weiteren Biss in sein Brötchen ruft er einer Passantin „Great tits“ hinterher. Eine Situation, in der die Frau besser noch wartet mit einer Ohrfeige. Denn der Mann spielt nicht auf ihre Oberweite an, sondern auf die kleinen gefiederten Tiere auf dem Ast über ihnen: Kohlmeisen – auf Englisch „Great tits“.
Die Chancen stehen gut, in europäischen Städten einige dieser Sänger anzutreffen. Sie haben sich hervorragend an das Stadtleben angepasst. Dank der wärmeren Temperaturen und eines größeren Futterangebots erreichen sie meist ein viel höheres Alter als ihre Vettern in den Wäldern, die durchschnittlich nur 1,6 Jahre alt werden. Sie leben also ganz gut so mitten unter uns, aber was macht sie eigentlich zu solch‘ erfolgreichen Stadtbewohnern?
Nistkasten wird gern genutzt
Kohlmeisen sind die größten und häufigsten von acht Meisenarten in Deutschland. Doch sicherlich wären sie weniger bekannt, würden sie nicht so gerne die ihnen angebotenen Nistkästen annehmen. Auf diese Weise lassen sie sich beobachten und wissenschaftlich erforschen. Seit mehr als dreißig Jahren betreibt Karl-Heinz Schmidt Meisenforschung.
Dem Leiter der Ökologischen Forschungsstation Schlüchtern entgeht kein Meisenruf auf seinen regelmäßigen Wanderungen durch Wälder, Wiesen und Städte. „Sie verfügen neben dem typischen ,zizibäh‘ über ein großes Gesangsrepertoire“, sagt er. „Dabei komponieren sie ihre eigenen Lieder, nachahmen, wie das andere Vogelarten gerne tun, mögen sie nicht“, berichtet Schmidt.
„Sie singen sozusagen ,exklusiv‘. Am Gesang alleine sind sie daher gar nicht so einfach zu erkennen.“ So komme es vor, dass selbst er lieber noch mal nachschaut, ob da über ihm wirklich eine Kohlmeise trällert.
Im März beginnt der Balzgesang der Männchen, den sie in der Stadt genau auf die Hintergrundgeräusche ihres Reviers abstimmen müssen. Da Stadtlärm hauptsächlich aus niederfrequenten, tiefen Tönen besteht, sind höhere Töne für die Weibchen besser zu hören.
„Sie verhalten sich wie Menschen auf ohrenbetäubenden Partys – da redet man lauter und hebt unwillkürlich die Stimme“, so Hans Slabbekoorn, niederländischer Wissenschaftler, der mit seiner Kollegin Margried Peet dieses Phänomen über fünf Jahre in europäischen Großstädten untersuchte (Nature, Bd. 424).
Dass ein guter Tenor sogar ein bereits liiertes Weibchen zum Seitensprung animieren kann, entdeckten Daniel Mennill und sein Team von der Queen’s University im kanadischen Ontario. So befinden sich unter den Eiern umso mehr fremdbefruchtete, wenn andere Männchen der Umgebung schöner singen, als das eigene (Science, Bd. 296).
Genauere Beobachtungen offenbarten ein Fremdgehen mit allen Finessen: Noch vor Sonnenaufgang stiehlt sich das Kohlmeisenweibchen heimlich zum Männchen eines anderen Reviers. Die Paarung mit ihm dauert nur ein paar Sekunden und befruchtet das Ei, das am nächsten Tag gelegt wird.
Schnell schlüpft die untreue Gattin nach ihrem Tête-à-Tête zurück ins heimische Nest. Doch wenn ihr eigentlich Auserwählter sie wenig später mit einem allmorgendlichen Ständchen abholt, ist es nicht unwahrscheinlich, dass auch er bereits Besuch von einer Nachbarin hatte.
Im Schnitt sind in einem Kohlmeisen-Nest bis zu 50 Prozent der Jungen nicht von dem eigentlichen Versorger der Brut. Diese heimlichen Liebschaften konnten mittlerweile bei vielen Singvogelarten nachgewiesen werden. Wie Forscher des Max-Planck-Instituts für Ornithologie in Seewiesen herausfanden, treten außerpaarliche Kopulationen häufiger auf, wenn die Partner enger miteinander verwandt sind.
Die außerpaarlich gezeugten Nachkommen haben dadurch eine höhere genetische Vielfalt und schädliche Folgen von Inzucht können so ausgeglichen werden. Bisher ist allerdings noch unklar, woran die Vögel ihren Verwandtschaftsgrad erkennen können, denn ihr Geruchssinn ist eher schlecht entwickelt.
Höchstleistung der Eltern
Während Frau Meise, die Ende April bis zu einem Dutzend Eier legt, das Gelege alleine bebrütet, versorgt das Männchen sie mit Futter. Nach dem Schlüpfen der Jungen beginnt eine wahre Odyssee für die Eltern, denn in den folgenden drei Wochen müssen sie etwa 8000 Raupen und andere Insekten zum Nest bringen, in Spitzenzeiten frequentieren sie es im Minutentakt.
Ein Meisenpaar und seine Nachkommen verspeisen somit bei zwei Gelegen über fünfzig Kilogramm Futtertiere während der Brutzeit. Jeder Gartenbesitzer hat sie gerne um sich, leisten sie so doch einen nicht zu unterschätzender Beitrag zur biologischen Schädlingsbekämpfung.
Verlassen die Sprösslinge nach drei Wochen schließlich den elterlichen Herd, sind sie nicht selten wohlgenährter als die sichtlich ausgezehrten Eltern. Es verwundert also nicht, dass viele Kohlmeisen nur den ersten Winter überleben, und sich nur einmal im Leben fortpflanzen.
Meisen sind zwar weitgehend die Nähe des Menschen gewohnt, doch sollte mal einer von ihnen dem Nest zu nahe kommen, kann er sich trotzdem auf ein Schimpfkonzert gefasst machen, dass ihm hören und sehen vergehen. Zeigt dies keine Wirkung, können Kohlmeisen auch mal Scheinangriffe fliegen.
Sollte sich gar einer wagen, den Nistkasten zu öffnen, so wie das Forscher manchmal tun, um etwa die Jungen zu wiegen, wird es fast unmöglich, sich ein weiteres Mal unentdeckt zu nähern: Die Meiseneltern werden den Störenfried immer wieder erkennen und fortan beschimpfen, sobald er auch nur in Sichtweite des Nestes auftaucht. Da nützt selbst die beste Verkleidung nichts mehr. Ganze Generationen von Biologie-Studenten können ein Liedchen davon singen.
Aber die Datensammlung lohnt sich: Mit ihrer Lebensweise können Kohlmeisen den Wissenschaftlern Hinweise darauf geben, wie sich unsere Umwelt aufgrund der globalen Erwärmung verändert. Biomonitoring heißt das Zauberwort, mit dem Karl-Heinz Schmidt von der Ökologischen Forschungsstation Schlüchtern versucht, aktuelle Umweltprobleme in ihrer Entstehung zu studieren, bevor wir Menschen sie bemerken. Im Frankfurter Raum läuft diesbezüglich eines der größten Projekte Europas.
Geschrumpfte Gruppen
Zusammen mit immer wechselnden Studenten kontrolliert Schmidt Kohlmeisen in rund 2500 Nistkästen zwischen Frankfurt und Fulda. So konnten bereits Daten von mehr als 300.000 Tieren gesammelt und ausgewertet werden.
Schmidt hat dabei herausgefunden, warum die hier ansässige Meisenpopulation in den vergangenen dreißig Jahren geschrumpft ist. „Ein Grund dafür ist das veränderte Zugverhalten der Vögel“, sagt er. So würden zwar immer noch genauso viele von ihnen ihren Geburtsort gen Süden verlassen, das sei angeboren.
Durch die zunehmende Klimaerwärmung zögen sie jedoch nicht mehr so weit wie früher, so dass die Zuwanderung aus größeren Regionen wie dem Baltikum bei uns nachlasse. Die Größe der lokalen Populationen hänge jedoch zu etwa 80 Prozent von dieser Zuwanderung ab. Das wärmere Klima mache die weite, anstrengende Reise überflüssig.
Außerdem haben die Meisen im Verlauf der vergangenen 30 Jahre ihre Brutsaison wegen der immer kürzer werdenden Winter deutlich vorverlegt. Bis zu neun Tage früher beginnen die Vögel mancherorts zu brüten. Die Meisen werden dazu gezwungen, da die Raupen, die Hauptnahrung der Jungen, in solch milden Frühlingen viel früher schlüpfen.
Die Raupen erreichen allerdings durch das große Nahrungsangebot für sich viel eher die Verpuppungsphase und fallen dann als Meisennahrung aus. Das heißt, Zweitbruten oder Ersatzbruten sind für Kohlmeisen in solch warmen Jahren unmöglich großzuziehen.
Und solche Jahre werden immer häufiger. „Die Meisen werden weniger, weil es wärmer wird – die Klimaerwärmung bringt das Ökosystem durcheinander“, lautet Schmidts Fazit. Die Meisenforschung könne demnach als eine Art ökologisches Frühwarnsystem fungieren.Quelle: Frankfurter Rundschau